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Zahl der Hilfeanfragen beim Wendepunkt und dem Interdisziplinären Traumazentrum auch 2019 weiter gestiegen

Tätigkeitsbericht für 2019 vorgestellt - deutliche Zunahme im Bereich Beratung gegen sexuellen Missbrauch

Mehr als 1200 Menschen haben im vergangenen Jahr beim Wendepunkt e.V. Hilfe gesucht. Das ist ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr – bereits seit vielen Jahren in Folge steigen die Beratungszahlen kontinuierlich an.

Das geht aus dem Tätigkeitsbericht für 2019 hervor, den Wendepunkt-Leiter Dirk Jacobsen am 10. Juni vorgestellt hat. „Eine deutliche Zunahme mussten wir im vergangenen Jahr bei den Anfragen an unsere Beratungsstelle gegen den sexuellen Missbrauch feststellen“, erläuterte Jacobsen. „Es ist erschreckend, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder bei aller Aufklärung und gesellschaftlichen Sensibilisierung immer noch in diesem Ausmaß stattfindet – wie wir gerade wieder in den aktuellen Nachrichten sehen. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen leiden unter den Folgen ihr ganzes Leben.“

Im vergangenen Jahr haben insgesamt 113 Betroffene die Beratungsstelle des Wendepunktes gegen sexuellen Missbrauch für den Kreis Pinneberg kontaktiert – gegenüber 90 Anfragen im Jahr 2018. Dies entspricht der bundes- und landesweiten Entwicklung. Laut Kriminalstatistik 2019 sind die Straftaten im Bereich sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen um fast 11 Prozent gestiegen (in Schleswig-Holstein um 9%).

Im Bereich der Verbreitung, des Erwerbs, des Besitzes und der Herstellung von Darstellungen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen sind die Ermittlungsverfahren bundesweit sogar um 65 Prozent angestiegen (in Schleswig-Holstein um 48%). Dies spiegelt sich auch in den gestiegenen Beratungszahlen im Fachbereich Ambulante Rückfallprophylaxe/Täterarbeit/Forensik des Wendepunktes wieder – waren es 2018 noch 336 Fälle, so wurden im vergangenen Jahr 362 Fälle bearbeitet. Die Nutzung und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen und kinderpornographischem Material hat zugenommen, und gleichzeitig gab es mehr Ermittlungserfolge. Darüber hinaus wird von einem sehr großen Dunkelfeld ausgegangen.

Trotz der hohen Nachfrage war das Interdisziplinäres Traumazentrum – eine Kooperation des Wendepunktes mit den Regio Kliniken – auch im vergangenen Jahr nicht auskömmlich finanziert. Nach wie vor konnten mit den öffentlichen Mitteln längst nicht alle Menschen, die beim Wendepunkt Hilfe suchten, versorgt werden. Die Lücke konnte zum Glück durch Spenden von Privatpersonen, Stiftungen und Firmen weitestgehend geschlossen werden. So hat die TRIBUTE TO BAMBI Stiftung 2019 die Kosten für die erste Behandlung und Krisenintervention für 25 Kinder mit traumatischen Erfahrungen übernommen. Geschäftsführer Jacobsen hofft, dass sich in diesem Jahr eine sichere Finanzierung durch den Kreis herstellen lässt.

Die beiden landesweiten Projekte, die der Wendepunkt gemeinsam mit anderen Trägern umsetzt, wurden verlängert. Das ist zum einen das sehr nachgefragte Projekt „TiK-SH – Traumapädagogik in Kindertagesstätten und Familienzentren“, mit dem Erzieher*innen in ihrer täglichen Arbeit mit traumatisierten Kindern kostenlos durch Fortbildungen und Beratungen unterstützt werden, und zum anderen die Männerberatung, ein Angebot für Männer, die häusliche oder sexualisierte Gewalt erfahren haben.

Anfang 2019 hat das Fortbildungszentrum des Wendepunktes (WFZ) das Qualitätssiegel des Landes Schleswig-Holstein als „Staatlich anerkannter Träger der Weiterbildung“ erhalten. Insgesamt haben im vergangenen Jahr 2400 Personen an Fort- und Weiterbildungen teilgenommen – 2018 waren es 2000, gegenüber 2017 konnten die Zahlen sogar verdoppelt werden. Themen waren zum Beispiel Gewaltprävention, Kinderschutz, Traumapädagogik, Schulbegleitung, Sexualpädagogik, Qualitätssicherung und Schutzkonzepte.

Die aktuelle Situation stellt auch die Arbeit der Beratungsstelle vor besondere Herausforderungen. Die Fachkräfte des Wendepunktes haben verstärkt Beratungen am Telefon und per Video-Chat durchgeführt. So konnte in der ganzen Zeit auch der Kontakt zu den im Rahmen der Erziehungshilfe betreuten Familien Kontakt gehalten werden. „Wir waren weiter für alle `unsere` Familien da und haben den Kontakt sowohl zu den Erwachsenen als auch den Kindern aufrechtgehalten“, erläutert Lena Würger, Leiterin des Fachbereichs „Erziehungs- und Familienhilfen“. „Das war sehr wichtig, denn die Situation hatte natürlich Auswirkungen auf die ganze Familie. Da gab es Stress durch die plötzliche räumliche Enge, Gefühle von Hilflosigkeit bis hin zu existenziellen Ängsten durch fehlende Einkünfte. Wir haben in den vergangenen Wochen viel Krisenintervention gemacht.“

Mittlerweile werden unter Einhaltung der Sicherheitsauflagen wieder verstärkt persönliche Beratungen angeboten.

Zahlreiche Fachkräfte und Organisationen weisen bereits auf die erhöhte Gefahr von häuslicher und familialer Gewalt hin – Opfer sind durch die soziale Distanz und Isolation den Tätern im direkten Umfeld viel stärker ausgesetzt und Übergriffe werden nicht so schnell bemerkt. Bisher gibt es zwar noch keine nennenswerte Zunahme an Fallanfragen bei der Beratungsstelle. „Wir gehen aber davon aus, dass sich die Meldungen in den nächsten Wochen und Monaten häufen werden“, betont Sascha Niemann, Leiter des Fachbereichs „Traumazentrum und Beratung“ des Wendepunktes. „Momentan ist die soziale Kontrolle innerhalb der Familie größer, wodurch es für die Opfer schwieriger ist, sich Hilfe zu holen. Oft werden Fälle von Gewalt gegen Kinder zum Beispiel durch die Schulsozialpädagogen gemeldet – und in den Schulen ist noch längst nicht wieder der Alltag eingekehrt.“