Im vergangenen Jahr haben die Beratungsstelle Wendepunkt mehr Hilfeanfragen erreicht als je zuvor. Insgesamt 1460 – in 2022 waren es noch 1236. Besonders deutlich ist der Anstieg im Fachbereich Traumazentrum und Beratung – von 739 auf 889 Anfragen.
„Wir vermuten, dass dieser Anstieg in erster Linie auf unseren gestiegenen Bekanntheitsgrad zurückzuführen ist“, sagt Wendepunkt-Geschäftsführer Dirk Jacobsen bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts. „Mehr Menschen wissen, dass wir Hilfe bieten zum Beispiel nach Traumatisierungen. Wir hatten in 2023 aber auch ein paar besondere Herausforderungen zu bewältigen.“
So haben wir nach der tödlichen Messerattacke in einem Zug bei Brokstedt schon ab dem Tag danach im Rahmen unserer Trauma-Ambulanz umfangreich Hilfe und Unterstützung angeboten. Wir haben Betroffene und Zeugen des Attentats betreut, waren in den Schulen, haben die Fachkräfte vor Ort unterstützt und haben über mehrere Wochen gemeinsam mit der Regio Klinik eine offene Sprechstunde in Brokstedt eingerichtet.
„Einige von denen, die mit im Zug saßen und die Tat miterlebt haben, haben sich danach beispielsweise nicht mehr getraut, Zug zu fahren. Da ist durch dieses schockierende Erlebnis das Sicherheitsgefühl verloren gegangen. Wir haben ihnen gezeigt, wie sie mit den Erfahrungen umgehen können, wie sie sich stabilisieren, die Erlebnisse für sich einordnen und sich schrittweise wieder da rantrauen können,“ berichtet Sascha Niemann, Leiter des Fachbereichs Traumazentrum und Beratung. In Folge des Ereignisses sind immer noch einige Betroffene beim Wendepunkt in Behandlung.
Als Konsequenz aus den Ereignissen hat uns das Justizministerium Schleswig-Holstein den Auftrag gegeben, akute und mittelfristige psychosoziale Nachsorge nach Straftaten (PNS) zu leisten – und zwar in ganz Schleswig-Holstein. Opfer von Straftaten, auch von Straftaten ohne Gewalteinwirkung, die unter psychologischen Folgen leiden, erhalten bei uns Unterstützung. Dafür haben wir eine Sprechstunde eingerichtet: Dienstag 10 – 12 Uhr und Donnerstag 14-16 Uhr, zu erreichen unter der Nummer: 0800-3700800.
Gleichzeitig wird landesweit ein Netz von Gewaltpräventionsambulanzen aufgebaut, um mit Menschen zu arbeiten, die straffällig geworden sind oder zu werden drohen. Auch mit dieser Aufgabe wurden wir vom Justizministerium als einer der Träger betraut.
Außerdem gestiegen ist die Zahl der Fachkräfte, die bei uns Unterstützung im Umgang mit hochbelasteten Kindern gesucht haben. Daher freuen wir uns besonders, dass das Kieler Sozialministerium entschieden hat, das landesweite und sehr nachgefragte TiK-SH-Programm (Traumapädagogik in Kitas und Familienzentren) auch auf Grundschulen und Förderzentren zu erweitern. Gemeinsam mit zwei anderen Trägern unterstützen wir Fachkräfte in diesen Bereichen mit traumapädagogischen Fortbildungen, Beratungen und Supervision. Die Ausweitung ist ein wichtiges Signal – Fachkräfte benötigen im herausfordernden Arbeitsalltag mit hochbelasteten Kindern die nötigen Kompetenzen und eine bestmögliche Unterstützung!
In 2023 konnten wir unser 30jähriges Jubiläum begehen. Wir haben uns in den vergangenen drei Jahrzehnten von einer Ein-Frau-Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt zu einem Verein mit vielen verschiedenen Zielgruppen und knapp 60 speziell ausgebildeten Fachkräften entwickelt. Seit der Gründung haben wir über 17.000 Fälle bearbeitet.
„Wir sind dankbar, dass unsere Arbeit inzwischen ganz anders akzeptiert ist als in den Anfangsjahren,“ sagt Dirk Jacobsen. „Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass Kinder und Jugendliche unseren besonderen Schutz brauchen. Und dass Menschen nach Traumatisierungen möglichst schnell professionelle Hilfe benötigen. Wir werden von der Politik unterstützt, so dass wir diese Arbeit machen können.“
Neben vielen positiven Entwicklungen war das Jahr aber auch sehr herausfordernd für uns. Ein hoher Krankenstand, ein stetig steigender administrativer Aufwand und die langwierige Suche nach Fachkräften belasten unsere tägliche Arbeit. Der Fachkräftemangel und die gestiegene Zahl an Anfragen führen auch dazu, dass es in einigen Bereichen mittlerweile auch Wartezeiten gibt. Bei einer akuten Traumatisierung versuchen wir aber nach wie vor, sofortige Hilfe zu ermöglichen.