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Ein Jahr TiK S-H: Hochbelasteten Kindern mit Traumata frühzeitig helfen

Landesweites Projekt unterstützt seit einem Jahr pädagogische Fachkräfte in der Region

„Ich betreue ein fünfjähriges Mädchen. Das kommt morgens, reißt erstmal alle Spielsachen raus, haut, schreit manchmal ganz laut und zeigt unvorhersehbares Verhalten. Der pädagogische Alltag mit ihr ist eine Herausforderung,“ berichtet Silke Sievers. Sie ist Heilpädagogin und wird von verschiedenen Kindergärten im Raum Elmshorn hinzugezogen, wenn Kinder verhaltensauffällig sind. Sie hat eine neuntägige Schulung im Rahmen des landesweiten TiK-Projektes besucht. Seit einem Jahr unterstützt und berät das Projekt „Traumapädagogikin Kindertagesstätten und Familienzentren“ (TiK) Erzieherinnen und Erzieher im Umgang mit traumatisierten Kindern. Das vom Sozialministerium finanzierte Projekt ist bundesweit einmalig und hat wegweisenden Charakter.

Silke Sievers sagt, dass das Seminar sie sensibilisiert habe und dabei helfe, Dinge auch von einer anderen Seite zu sehen. „Das Kind hätte auch ADHS haben können – das wäre die naheliegende Diagnose gewesen. Wir haben dann geguckt, wie weit wir mit Traumapädagogik kommen – und haben dann festgestellt, wie sehr das hilft. Es hat sich herausgestellt, dass das Mädchen in der Vergangenheit Gewalt- und Verlustsituationen erlebt hat.“

In Schleswig-Holstein werden 106.560 Kinder in Kindertageseinrichtungen betreut. Die pädagogischen Fachkräfte in den Einrichtungen werden immer wieder mit traumatisierten Kindern konfrontiert. Die Bandbreite der Ursachen ist groß: Körperliche oder sexuelle Gewalt, Demütigung, Vernachlässigung oder das Erleben von Krieg und Flucht. Aber auch familiäre Alltagsbelastungen sowie langanhaltende Stresserfahrungen, wie der Verlust eines Elternteils, können Kinder hoch belasten. „Ich habe es ganz oft mit Kindern zu tun, die eine schwierige Lebenssituation haben“, so Sievers. „Heutzutage haben viele Kinder eine Bindungsproblematik. Es gibt einen großen Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich.“

Auf einem Fachtag im Kieler Landtag zu dem Projekt TiK betonte Sozialminister Dr. Heiner Garg: „´TiK-SH entspricht einem sehr drängenden Bedarf: schon lange sind Kindertagesstätten mit dem Thema Trauma konfrontiert.“ Hochbelastete Kinder bräuchten einen sicheren Ort und stabile, soziale Beziehungen, so der Minister. „Sie brauchen Betreuung, die geleitet ist von fachlichem Verstehen und einem emotional angemessenen Umgang mit den Kindern.“

Das Sozialministerium hat eine Dokumentation über das erste Jahr des TiK-Projektes in Auftrag gegeben. Die Bilanz ist sehr positiv – bislang nutzten landesweit über 1700 Fachkräfte die verschiedenen Angebote, die allesamt kostenlos sind. Es gibt unterschiedliche Fortbildungen sowie Beratungen und Supervision – diese drei Säulen können auch jeweils als Inhouse-Angebot genutzt werden. Die Erzieherinnen und Erzieher bekommen ein traumapädagogisches Verständnis vermittelt und können sich bei ganz konkreten Fällen beraten lassen. Interviews mit verschiedenen Fachkräften wie Silke Sievers, die in der Dokumentation enthalten sind, dokumentieren die Herausforderungen des pädagogischen Alltags und den hohen Nutzen des traumapädagogischen Wissens für die Arbeit mit belasteten und verhaltensauffälligen Kindern. „Das Projekt TiK verändert Haltungen, schafft Kompetenzen und gibt Kindern Heilungschancen,“ fasst Holger Platte, Dipl. Sozialpädagoge beim Wendepunkt, zusammen.

Der Wendepunkt e.V. ist einer von drei Trägern, die im Auftrag des Sozialministeriums Fortbildungen, Beratungen und Supervision an zahlreichen Standorten übernehmen. Der Wendepunkt ist für die Kreise Pinneberg, Steinburg, Stormarn, Herzogtum Lauenburg und die Städte Neumünster und Norderstedt verantwortlich und hat im ersten Jahr über 770 Fachkräfte geschult und beraten.

„Die verantwortungsvolle Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher kann gesellschaftlich nicht hoch genug geschätzt werden“, so Franz Schneider, Leiter des Teams TiK-SH/Region Südbeim Wendepunkt. „Deshalb freuen wir uns, dass wir durch dieses Projekt die pädagogischen Fachkräfte in unserer Region unterstützen und fördern können, um gemeinsam ein gutes Erziehungsmilieu zu schaffen.“

Das fünfjährige Mädchen hat sich inzwischen stabilisiert und hat gelernt, mit anderen Kindern zu spielen. Silke Sievers möchte gerne auch andere Erzieher und Eltern für das Thema Traumapädagogik sensibilisieren: „Verletzungen an der Seele kann man nicht sehen. Kinder brauchen einen Platz, wo sie sich fallen lassen können. Wenn man davon ausgeht, dass jedes Verhalten eines Kindes einen guten Grund hat, dann ist das eine positive Grundhaltung, die das Menschenbild prägt.“